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Wieder Brücke

Wütend? Ja, sie war wütend. Je mehr sie über Shos letzte Worte nachdachte, desto mehr spürte sie die Wut in sich aufsteigen. Sie merkte, wie diese Emotion sich mehr und mehr in ihr anstaute, um über kurz oder lang - der sauerstoffhaltigen Flamme eines Bunsenbrenners gleich - aus ihrem Kopf zu schießen.

Ihre beiden Hände ballten sich zu Fäusten, während sie knurrend mehrmals mit ihrem rechten Fuß auf den Boden der Brücke stampfte, um zumindest einen kleinen Teil der Wut loszuwerden.

Sho hatte sie kurz zuvor über die Vorgänge auf der Erde aufgeklärt. Wenige Stunden nach den dortigen Attentaten, hatte das neu gegründete STS bereits Pläne veröffentlicht, die eine nahezu lückenlose Überwachung eines jeden Einwohners auf Erde und Mond vorsahen. Laut Experten sei dies die einzige Möglichkeit, um weitere Selbstmordattentäter aufhalten zu können. Ein Großteil der dortigen Bevölkerung schien das angebotene Narrativ zu glauben und verharrte seitdem ohnmächtig in einem Angstfeld.

»Und niemanden scheint es zu wundern, dass diese Pläne in so kurzer Zeit beschlossen auf dem Tisch lagen ... ich möchte am liebsten kotzen.« fluchte Sho.

»Naja, ein paar kritische Stimmen gibt es ja schon.« murmelte Sokolow.

»Und denen wird erzählt, dass diese Pläne schon vor Jahren von ein paar Arbeitsgemeinschaften hinter verschlossenen Türen entwickelt worden seien, als sie an einem ähnlichen Szenario gearbeitet hatten. Beim Anbeginn der Netzwerksphäre.« piepste Twinkle.

»Sie können aber keine Quellen aufzeigen, niemand weiß, wer das damals gewesen sein soll.« zischte Sho verächtlich.

»Was aber den meisten Idioten egal ist!« platzte es aus Judith »Sie lassen sich von der kollektiven Angst und Unsicherheit vereinnahmen und greifen nach jedem Strohhalm, der ihnen geboten wird. Es ist noch kranker als damals bei Corona, verdammt!« noch einmal musste sie mit dem rechten Fuß auf den Boden aufstampfen.

Mit einem verwirrten Blick brach Gene sein bisheriges Schweigen: »Corona?«

»Ach stimmt, du warst damals ja noch nicht auf der Welt« sagte Judith in einem teils genervten, teils verächtlichen Tonfall und rollte dabei mit ihren Äuglein.

»He, ich war damals auch noch nicht auf dieser Welt.« protestierte Twinkle mit energischem Gepiepse.

Judith streckte daraufhin den beiden einfach nur ihre Zunge raus und verschränkte gleichzeitig ihre Arme vor der Brust.

Sho wirkte nachdenklich und schüttelte den Kopf, als er entgegnete: »Die Ereignisse bei Corona haben sich damals aber über mehrere Monate abgespielt. Da wo wir jetzt gerade sind, das hätte damals ein halbes Jahr gedauert. Die Angst ist langsamer aufgebaut worden, das jetzt ist eher wie...« er stutzte.

»Eine Bombe.« brummte Sokolow dazwischen, »Die jetzige Menschheit kennt derartige Attentate und Kriege nicht mehr. Nach mehreren Generationen des Friedens muss es sich für die Beteiligten so anfühlen, als hätte sie plötzlich jemand nackt in den kalten Schnee geworfen.«

Skeptisch dreinblickend bemerkte Judith mit einer hochgezogenen Augenbraue den abwesenden Blick des stummen Genes neben ihr.

»Du schaust doch nicht etwa im Netz nach, was Corona war?« sagte sie spitzfindig und boxte ihn auf seinen rechten Oberarm.

»Ich schau das auch grad nach!«, piepste Twinkle, woraufhin wieder Judiths Äuglein rollten.

Anstelle sich zu beschweren, blickte Gene zuerst Judith und danach die anderen ernst an: »Ist das hier wirklich abhörsicher?«

Twinkle piepste zustimmend und auch Sho nickte ihm zu.

Gene schien noch zu zögern. Sokolow - dem sowohl Genes Zögern, als auch Judiths aufkommende Ungeduld auffiel - bemerkte mit einem ruhigen Brummton: » Gene, Du kannst beruhigt sein, wir wissen hier was wir tun. Wenn die Kooperative von uns wirklich wüsste, wären wir schon lange nicht mehr am Leben.«

Gene kniff die Augen zusammen und atmete einmal tief ein und wieder aus, bevor er Sokolow ansah und antwortete: »Was, wenn diese Attentäter auf der Erde aus unserer eigenen Kooperative stammen?«

Sokolow runzelte verständnislos die Stirn. »Wie meinst du das?«

»Melissa erzählte mir einst, als sie die Hirnlöschung nicht haben wollte, dass diese Leute gar kein neues Leben bekommen würden, sondern stattdessen als Zombies irgendwo vor sich hin vegetieren würden.«

»Sie schaden doch nicht ihren eigenen Leuten und den unschuldigen Menschen auf Erde und Mond?« entgegnete Sho ungläubig.

Gene blickte Sho an: »Das wäre nicht das erste Mal. Bei mir haben sie es doch auch erst vor kurzen versucht.« woraufhin er zu Judith schaute, die die Nase kraus zog.

»Ja, aber doch nicht der ganzen Menschheit? Wozu?« fragte Sho schon mit ein wenig Verzweiflung in der Stimme.

»Um ihre Interessen durchzusetzen.« sagte Gene zu Sho und blickte dann Sokolow an. »Das haben sie schon einmal gemacht.«

»Wann?« brummte der Kapitän. »Wovon sprichst Du?«

Gene schien sich zu sträuben, als würde ihn eine innere Barriere aufhalten. Verkrampft formte er seine rechte Hand zu einer Faust, während er die Augen zusammenkniff und mit seinen Blicken etwas auf dem Boden zu suchen schien.

Judith blickte wissend zu Gene und nickte ihm zu. »Sag es ihnen! Sag, wozu sie dich gezwungen haben!«

»Ich….ich habe damals… « Gene nahm mehrere tiefe Atemzüge und schloss die Augen, bevor er weitersprechen konnte »...die Philantropenmorde begannen.«

Sokolow schaute ihn mit weit aufgerissenen Augen schweigend an. Sho atmete zischend aus und Twinkle tippelte aufgeregt abwechselnd auf dem linken Beinchen und dann wieder auf dem rechten Beinchen.

»Er musste das tun, die Kooperative hätte ihn sonst nicht aufgenommen. Die haben ihn und seine Mutter gleichermaßen betrogen und ausgenutzt.« schimpfte Judith während sie sich näher neben Gene stellte, um ihn zu verteidigen.

»Sie erzählten mir, dass es sich bei bei diesen Zielen um Terroristen handeln würde, die beseitigt werden müssten, bevor sie Schlimmes anrichten könnten.« murmelte Gene, »Und ich Idiot wollte ihnen das glauben, um in die Kooperative aufgenommen zu werden.«

Judith legte eine Hand auf Genes stocksteife Schulter, während es den anderen anscheinend die Sprache verschlagen hatte.

Sho fand als erstes wieder Worte: »Und deine Mutter haben sie zu der Inszenierung des Nanounfalls gezwungen, bei dem es zum Glück keine weiteren Opfer gegeben hat.« Nach einer kurzen Pause setzte er in einem nachdenklichen Ton hinterher: »Vielleicht können wir froh sein, dass Kira es war. Bei jemand anderem wären vielleicht etliche Opfer zu Schaden gekommen.«

Sokolow flüstert leise den Namen von Genes Mutter: »Kira...«

»Und so konnten sie uns dann im Bunker einsperren.« piepste Twinkle, »Aber wozu die Philantropen-Morde? Was hatten die mit der Kooperative zu schaffen?«

»Vielleicht wussten sie zuviel.« meinte Sho.

Gene schüttelte mit dem Kopf: »Nein, sie wussten nichts von der Kooperative, aber sie waren gegen die Pläne von Space Corp. Pläne im Alleingang in New Angels' Hope einen Weltraumaufzug zu installieren. Sie gehörten zum alten Geldadel, der seine Macht noch nicht ganz an die Menschheit abgeben wollte. Es waren einfach nur Geschäftsmännern, die mitbestimmen und verdienen wollten.«

»Und das konnte Space Corp. nicht zulassen.« murmelte Judith.

Sho nickte zustimmend: »Ja, sie konnten keine andere Partei gebrauchen, wenn sie den uralten Bunker unter dem Weltraumaufzug weiterhin für sich selbst nutzen wollten. Sie mussten es geheim halten.«

»Ich habe das erst vor kurzem recherchiert, vorher wollte ich nichts davon wissen. Ich…habe es lange Zeit einfach verdrängt.« knurrte Gene.

»Und jetzt setzen dieselben Leute eventuell Ehemalige von uns ein, für Selbstmordattentate, damit die Menschheit sich freiwillig überwachen lässt?« Sokolow sagte diese Worte langsam und mit Bedacht. Unglauben schwang dabei in seiner Stimme mit.

»Die Medien sind voll von Berichten, dass sich diese Attentäter merkwürdig verhalten hätten. Würde das nicht Genes These unterstützen?« piepste Twinkle aufgeregt.

Augenrollend entgegnete Judith: »Natürlich haben sie sich merkwürdig verhalten. Wenn sich einer hochjagen will, benimmt er sich nun mal so.«

»So oder so, Erde und Mond sind gerade dabei, nahezu freiwillig in eine massenweite Überwachung hineinzurennen und sich dabei auch noch vermeintlich wohl zu fühlen. Und alles nur um ein paar angeblich Fremdgesteuerte aufhalten zu können.« steuerte Sho bei.

»Und warum ist jetzt wieder Ruhe? Wenn's der Feind wäre, würde er uns doch nicht zur Ruhe kommen lassen. Ich würde Jede Minute in einer anderen Stadt eine Bombe zünden, so dass die Leute nicht mehr zur Ruhe kommen könnten. Ich würde erst damit aufhören, bis die Leute sich durch ihre eigene Panik gegenseitig auf offener Straße zerfleischen würden.«

»Also, sie inszenieren den Nanounfall, damit die Menschheit die Finger von der Nanotechnik lässt. Sie erschießen Menschen, damit der Weltraumaufzug gebaut wird und sie so ein Monopol auf den Weltraum erhalten. Jetzt verheimlichen sie unsere Gravitationsschiffe, weil diese sonst den Weltraumaufzug überflüssig machen würden und so ihr Monopol in Gefahr bringen würden.« Gene zählte diese Fakten mit den Fingern seiner rechten Hand auf.

»Und sie reglementieren die Schiffe auf eine Mindestgeschwindigkeit, damit den Kapitänen nicht zuviel Macht in die Hände gelegt wird.« grummelte Sokolow bevor Gene seine Gedanken weiter aufzählen konnte.

»Was?« schockiert schaut Gene drein und hielt drei Finger noch vor sich in der Luft erhoben.

»Ja, die Schiffe könnten sehr viel schneller fliegen. Die Geschwindigkeit wird auch beschränkt, damit die Schiffe nicht allzu sehr auffallen. Diese Tatsache ist nur sehr wenigen von uns bekannt. Die meisten Kapitäne wissen davon nicht das geringste. Ich befürchte sogar, dass ich der einzige bin.«

Gene schaute ihn mit einer Mischung aus Unglaube und Nachdenken an: »Soll das etwa heißen, dass wir sehr viel schneller auf dem Mars ankommen könnten?«

»Aye!« brummte Sokolow

»Wie viel schneller? Statt Wochen Tage?«

»Sehr viel schneller.« brummte Sokolow und grinste hämisch. »Wir könnten in wenigen Stunden da sein, wenn wir die Antriebskraft besser ausschöpfen könnten.«

Erstaunt blinzelte Gene bei diesen Worten und machte große Augen.

»Das ist alles von der Kooperative geplant, diese verdammten Schweine!« schimpfte Judith laut und stampfte wieder mehrmals mit ihrem rechten Fuß auf.

»Und wieso fliegen wir dann nicht einfach schneller?« sagte Gene grüblerisch, woraufhin die anderen ihn mit skeptisch fragenden Blicken anstarrten. »Wieso entfernen wir nicht einfach die Barriere aus dem Antrieb?« Daraufhin starrten sie sich gegenseitig an.

»Wir...« Sho äußerte sich als erster. »Wir wissen doch gar nicht wirklich, wie dieser vermaledeite Feldantrieb überhaupt funktioniert.«

»Ja das stimmt.« brummte Sokolow zustimmend. »Die Funktionsweise des Feldantriebs ist ein strenggehütetes Geheimnis innerhalb der Kooperative. Nur einige wenige Auserwählte kennen sein Geheimnis.«

»Und von denen ist vermutlich keiner auf dem Weg zum Mars. Die hocken alle sicher auf der Erde in ihrem Bunker.« piepste Twinkle.

»Das heißt, ihr könnt nirgends sehen, was passiert, wen ihr fliegt?«

»Nur das übliche. In einem Benzinauto hast du ja damals auch nur Geschwindigkeit, Umdrehungszahl, Öltemperatur und so weiter gesehen, aber nicht wie der Motor wirklich funktionierte.« murmelte Sho.

»Und ihr könnt nicht die Motorhaube hochheben und reinschauen?«

Sho musste bei diesem Gedanken kichern, während Sokolow das Wort ergriff: »Könnten schon, aber das würde auffallen. Die Komponenten des Feldantriebs sind allesamt in einer besonders abgeschotteten Kammer eingebettet. Wenn wir die öffnen, weiß die Kooperative wenige Sekunden später, was wir getan haben.«

Fraglos schaute Gene dann zu Judith, die schon die letzten Momente verdächtig ruhig gewesen war.

Sokolow blickte ebenso zu ihr und schüttelte augenblicklich vehement mit seinem Kopf: »Oh nein, Judith, ich kenne diesen Gesichtsausdruck. Keine Experimente.«

Verschmitzt grinste Judith drein und schaute sich auf der Brücke die einzelnen manuellen Steuerungskonsolen an, während sie mit dem rechten Zeigefinger im Zimmer umherschwenkte: »Wieso denn nicht? Beim letzten Mal hat es doch auch geklappt.«

Nervös knetete Sokolow seine Hände und seufzte, als ihm de Worte fehlten.

»Wir müssen doch nur eine durchsichtige Motorhaube installieren, dann sehen wir doch, wie die Kolben und die Benzinpumpe und der restliche Kram arbeiten, oder nicht?« sie zwinkerte Gene neckisch zu.

»Aber wie sollen wir denn die Wartungsklappe der abgeschotteten Kammer austauschen, ohne dass es jemand mitbekommt?« fragte Twinkle unter Zuhilfenahme eines extrem nervigen Piepsstimmchens.

Verächtllich rollte Judith mit den Äuglein und blaffte zurück: »Wir tauschen doch gar nicht die Klappe aus...«

»Aber du sagtest doch eben...«

»Das war ein Gleichnis.« grummelte sie und streckte kurz beide Arme nach oben aus in der Hoffnung, es möge ihr jemand zur Hilfe eilen.

Beleidigt verschränkte das SyC seine Armanipulatoren vor sich.

»Mann, wir installieren einfach ganz viele Sensoren um die Kammer herum. Dann können wir sehen, was in die Kammer hineinfließt, was wieder herauskommt und alles andere hören wir dann auch schon... irgendwie.« stoisch zählte Judith diese Punkte in Richtung des SyC auf und rollte dann wieder bloß mit den Äuglein.

Sokolow stand nach wie vor nervös herum und knetete seine Hände, während Sho und Gene sich das Lachen verkneifen mussten.

Mit grummeligen Blick schaute Judith dann zu Sokolow: »Ach komm schon, alter Mann, das klappt schon. Wir installieren die Dinger ein weniger als drei Stunden und dann können wir endlich diesen verdammten Feldantrieb erforschen.«

Sokolow sah sie stumm an.

»Das hätten wir doch eh schon längst machen müssen. Da passiert schon nichts« fügte sie mit einem lächelnden Nicken hinzu.

Sokolow sah sie weiter stumm an.

»Wirklich!« fügte Judith ihren letzten Worten hinzu und ballten dann leicht zornig ihre rechte Hand zur Faust.

Seufzend atmete Sokolow aus, woraufhin Sho und Gene ihr Gelächter nicht mehr zurückhalten konnten, in das dann auch sofort Twinkle mit lautem Rasseln einsteigen musste.

Sofort vergrub sich Judiths rechte Hand in Genes linken Ärmel und zerrten ihn hinter sich her, während sie mit der anderen Hand Twinkle zuwunk: »Los, Twinkle, mitkommen.«

»Aber was hab ich denn damit zu schaffen?« protestierte das SyC.

»Du hilfst uns mit dem Anschließen von den Sensoren.« schnauzte sie leicht.

Brummig trottete das SyC dann hinter den beiden her.

»Aber ich hätte noch eine Frage zu diesen Zombies, diesen Hirngelöschten!« rief Sokolow im letzten Moment, bevor die drei vollends durch das Schott verschwunden waren.

»Keine Zeit, los wir müssen das Schiff umbauen!« rief Judith mit trällernder Stimme und schleifte Gene weiter hinter sich her.

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Autor: Tobias Mahs