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Zwischenspiel

Kornfelder. Riesige weite Kornfelder. Kornfelder, die sich einem einzigen Ährenmeer gleich in alle vier Himmelsrichtungen bis zum digitalen Horizont ausbreiteten.

Perry hatte sich gerade erst eingeloggt und fühlte bereits ein Unwohlsein. Nicht, weil er sich gleich mit seinem Vorgesetzten treffen würde, nein, zum ersten Mal machte ihn diese Simulation an sich nervös.

Die Sonne brannte aus einem wolkenfreien Himmel herab auf das Getreidemeer. Dazu herrschte eine bedrückende Windstille. Die Luft flimmerte vor Hitze. Unweit seines Ankunftortes stand ein abgestorbener Baum, der nur noch seinen halb rindenlosen Stamm und die dicksten Äste in den Himmel streckte.

Ich wäre lieber in einer von Genes Simulationen zugegen, statt hier dachte er bei sich.

Seit mehr als einem Jahrhundert war dieses Kornfelduniversum nun der Treffpunkt zwischen ihm und seinem Vorgesetzten und zum ersten Mal fragte er sich, wieso das Ganze? Dazu kam, dass die Treffen schon immer anonym stattgefunden hatten. Perry kannte von seinem Gegenüber weder dessen Gesicht, noch dessen Silhouette, ja nicht einmal einen Namen. Und die ihm bekannte Stimme war mit Sicherheit verstellt, das hatte er schon vor langer Zeit bemerkt und ignoriert.

Wo sitzt dieses Arschloch eigentlich? kam es ihm in den Sinn. Er könnte sich irgendwo auf der Erde, auf Lunar, auf dem Mars oder auf einem dieser Raumschiffe aufhalten. Ganz nah oder ganz fern.

Entfernungen spielten in der Kommunikation der Kooperative keine Rolle mehr, seit vor über 100 Jahren die ersten HPUs entdeckt worden waren. Bei diesen sogenannten Human Processing Units handelte es sich um Menschen, bei denen sich ein bestimmter gutartiger Tumor im Kopf ausgebildet hatte. Als Nebeneffekt standen diese Menschen untereinander telepathisch in Kontakt, wodurch sie ohne Zeitverzögerung miteinander kommunizieren und dabei große Datenmengen abhörsicher verschicken konnten. Der Großteil von ihnen war im irdischen Hauptquartier stationiert. Sie waren als Spezialeinheit im STS eingegliedert und waren ebenfalls NanoCyborgs, so wie Perry. Die Flotte, mit der Perry und die anderen Mitglieder des kybernetischen Korps zum Mars flogen, besaß in jedem Raumschiff mindestens eine HPU. Der Großteil von ihnen sollte bei der Landung auf dem Mars verteilt werden, um ein lückenloses und sicheres Datennetz zur Erde aufzubauen.

Plötzlich wurden seine Gedanken je unterbrochen, als ein Wind durch das virtuelle Korn wehte und die Ankunft der Obrigkeit signalisierte.

Wie gewohnt nickte Perry zur Begrüßung in Richtung des toten Baums und sagte: »Sir.« Gleichzeitig fragte er sich zum ersten Mal seit 100 Jahren, wieso er annahm dass sein Vorgesetzter ein Mann sein sollte.

»Hallo Perry.« erklang eine unbestimmbare Stimme, die aus dem toten Baum zu kommen schien und dann in ein Schweigen verfiel.

»Sie wollten mich sprechen, Sir?«

Die Antwort kam zögerlich und fast meinte Perry ein Seufzen hören zu können.

»Ja, wir müssen uns über Gene Marone unterhalten.«

Perry fühlte einen Stich in seinem Selbtbewusstsein. Jahrzehntelang war Gene Teil seines Teams gewesen. Von Anfang an hatte es Streit zwischen ihnen gegeben und immer hatten sich dessen Marotten mehr oder weniger als Teil der Lösung herausgestellt.

Anfangs hatte Perry gedacht, dass Gene ihm die Führungsposition streitig machen wollte, doch mit der Zeit hatte er gemerkt, dass dem nicht so war. Gene hatte die Eigenart, dass er sich nicht unterordnen konnte, wenn er mit den Befehlen nicht einverstanden war. Dies war auch der Grund, wieso er zuvor aus über einem Dutzend anderer Einheiten herausgeflogen war.

Doch Perry wollte dieses schwarze Schaf nicht einfach fallen lassen. Obwohl oder gerade weil er diesen eigenbrödlerischen Scharfschützen und dessen Ideen meistens nicht verstand, ließ er ihn in seinem Team. Irgendwie schien Gene instinktiv zu merken, wenn er falsch eingesetzt wurde und korrigierte dieses dann selbstständig, ohne sich auf lange Diskussionen einzulassen. Nach ein paar ärgerlichen Monaten hatte Perry festgestellt, dass er mit Gene an seiner Seite ein zwar nach Außen unruhiges Team befehligte, welches aber den Großteil der darauffolgenden jahrzehntelangen Simulationsgefechte mit Auszeichnung meisterte. Perrys Geheimnis bestand von nun an darin, dass er Gene eine gewisse Freiheit der Befehlsinterpretation gewährte. Auf diese Weise konnte Marone als eigenständiger Part innerhalb von Perrys Team agieren.

Das alles hatte sich über die Jahre bewährt, ohne dass die beiden es jemals abgesprochen hatten. Es war ein funktionsfähiges Konstrukt, bei dem sich beide am beschweren waren.

Und plötzlich schien Gene beim letzten Einsatz die Fassung verloren zu haben und wollte nun ausbrechen.

»Geht es um Marones Versetzung, Sir?«

»Ja, in der Tat. Ich wollte vorher persönlich mit ihnen reden, bevor ich meine Entscheidung verkünde, Perry. Marone hat um eine Verlegung zu einer anderen Einheit gebeten.«

»Und um welche handelt es sich dabei, Sir?« Perry wurde hellhörig, anscheinend hatte Gene genaue Pläne, wo er hin wollte.

»Es handelt sich dabei um die Einheit von Judith Hamilton.«

Perrys Augen weiteten sich vor Verwunderung: »Sir, bei Hamiltons Einheit handelt es sich um einen Pioniertrupp. Was soll ein taktischer Scharfschütze bei den Pionieren? Diese Einheit ist gar nicht für den direkten Fronteinsatz vorgesehen.«

»Das ist mir auch klar, trotzdem hat Marone diesen Wunsch vorgetragen. Offenbar möchte er sich mehr der Entwicklung unserer Ausrüstung widmen. Vielleicht ist er kriegsmüde geworden.«

»Sir, einen derart hochdekorierten Krieger zu den Pionieren zu schicken, um Schützengräben auzuheben, das ist wie Perlen vor die Säue zu werfen!« Perry versuchte sich zu beherrschen, aber trotz allem wurde seine Stimme lauter.

»Ja, das ist wahr. Ich verstehe ihren Ärger, Perry, ohne Gene Marone wird ihr Team nicht mehr so einsatzfähig sein, er war ein integraler Bestandteil. Trotzdem werde ich der Versetzung zustimmen. Unter uns, ich möchte sowieso nicht, dass Marone seine neue Einheit erreicht.«

Dem letzten Satz der Aussage setzte Perrys Verstand entschiedenes Unverständnis entgegen. Es dauerte einige Augenblicke, bis ihm klar wurde, dass er den ganzen Sachverhalt nicht begriff oder eher nicht begreifen wollte. Daher legte er den Kopf schief und frage vorsichtig: »Sir?«

»Perry, dieses Gespräch darf diesen Raum unter keinen Umständen verlassen. Bevor wir fortfahren, muss ihnen eines klar sein: Sie waren niemals hier und Ich war ebenfalls niemals hier. Haben wir uns verstanden?«

Perry schwieg, so erstaunt war er. Er wollte nicht wahrhaben was gerade geschah und irgendwie schienen seine Ohren zu klingeln. Er schwieg zu lange, so dass die Obrigkeit nervös wurde.

»Perry, Haben Sie verstanden?«

Langsam löste sich Perry aus seiner Erstarrung.

»Ja, Sir.«

»Gut. Perry, lassen Sie sich eines vorab gesagt sein: Das Individuum Gene Marone hat von Anfang an ein Problem dargestellt. Als er Ihnen unterstellt wurde, schien das aufzuhören. Irgendwie stimmte die Chemie zwischen ihnen beiden. So dachten wir lange Zeit, dass das Problem Marone damit ein Ende gefunden hätte. Bis vor ein paar Wochen dachten wir das noch, bis kurz vor unserem Aufbruch zum Mars. Er besuchte unerlaubt seine Ex-Frau und setzte sich so der Öffentlichkeit zu Schau. Ihm muss klar gewesen sein, dass dies einen schweren Verstoß gegen unsere Sicherheitsvorschriften darstellt.«

Perry schluckte einen Kloß herunter: »Sie wussten davon, Sir?«

»Ja, wir wissen davon, und dass Sie, Perry, nicht sofort zu mir gekommen sind, zeigt den zersetzenden Einfluss dieses Mannes auf unsere Offiziere.«

»Sir, ich wollte mich persönlich darum kümmern...« druckste Perry herum.

Es herrschte ein kurzer Moment der Stille, bevor die Gegenseite fortfuhr.

»Marone ist ein einsamer Tiger im Wolfspelz, der die ganze Zeit vorgegeben hat, ein Teil des Rudels zu sein. Wir können ihn nicht weiter verantworten und müssen ihn loswerden.«

Bei dem letzten Satz stockte Perry der Atem.

»Aber Sir«, fing er langsam an »was hat das alles zu bedeuten?«

Trotz innerlicher Zerissenheit versuchte er eine gewisse Ruhe auszustrahlen. Er ahnte, was nun kommen sollte und er wusste, dass es ihm nicht gefallen würde.

»Das bedeutet,« sprach die Stimme aus dem toten Baum ruhig »dass wir nichts dagegen hätten, wenn Gene Marones Nanotank bei seinem Transport zu dem Raumschiff seiner neuen Einheit, sagen wir mal, etwas zustoßen würde.«

Perry wusste nicht mehr, was er von dieser Entwicklung halten sollte. Jahrzehntelang hatte er den linientreuen Offizier gegeben, aber das hier war Mord an den eigenen Leuten.

»Sie wollen ihn töten?«

»Töten ist ein so häßliches Wort. Nennen wir es doch einfach einen tragischen Unfall.«

»Aber, Sir, die Nanotanks sind so sicher, wie soll es glaubhaft sein, dass es sich um eine Fehlfunktion handelt?«

»Deswegen wäre es von Vorteil, wenn sich hinterher herausstellen würde, dass Marone selber daran herumgebastelt hätte. Er ist zwar ein fähiger Techniker, aber es ist auch kein Geheimnis, dass er häufig überheblich handelt. In Anbetracht seines technischen Talentes, haben wir ihn gewähren lassen, aber er müsste mit seinem aktuellen Projekt fertig sein, so dass sein Verlust hinnehmbar ist. Wir dürfen solche Individuen nicht länger tolerieren, sonst haben wir es bald mit dem Ende der Kooperative zu tun.«

»Können wir Marone nicht irgendwie helfen? Er ist so ein fähiger Krieger, den dürfen wir doch nicht einfach so entsorgen.«

Perry klang verzweifelt. Es herrschte längere Zeit Schweigen, bevor er seine Antwort erhielt.

»Perry, als sie damals zu uns kamen, nach ihrem Helikopterabsturz, da waren Sie nur noch ein Torso, der den Kopf bewegen konnte. Ihre Verdauungsorgane waren nicht mehr vorhanden. Die Ärzte hatten sie abgeschrieben und warteten nur noch darauf ihren Totenschein zu unterschreiben. Wer hat Ihnen damals geholfen und Ihnen dazu noch nebenbei die Unsterblichkeit geschenkt?«

In Perrys Hals machte sich wieder ein Kloß breit, den er mühsam hinunterschlucken musste, bevor er antworten konnte: »Die Kooperative.«

»Wenn wir es zulassen, dass das Problem Marone sich in die Problemtruppe um Judith Hamilton einreihen kann, dann können wir uns bald von der Kooperative verabschieden. Wir haben ihn damals erwählt und wir werden ihn jetzt wieder löschen. Sie dürfen nicht vergessen, dass dies alles zum Wohle der Kooperative geschieht. Es ist nichts Persönliches.«

Perry stand starr da und blickte mit gesenktem Kopf auf die knorrigen Baumwurzeln vor sich.

Seinem Vorgesetzten schien das ganze nicht schnell genug zu gehen, mit nervöser Stimme fragte er: »Nun, Perry, werden sie sich um die entsprechenden Maßnahmen kümmern?«

Perry wurde schwindelig, was eine merkwürdige Unmöglichkeit war, da sein realer Körper gerade gar nicht hier war. Er zögerte zu lange seine Antwort heraus, so dass sein Gegenüber ungehalten wurde: »Haben Sie damit ein Problem, Perry?«

Perry presste seine Augenlider fest aufeinander und öffnete sie dann wieder.

»Nein, Sir.«

Doch er hatte ein Problem damit.

»Dann zum Wohle der Kooperative.«

»Zum Wohle der Kooperative.« Perry bekam bei diesen Worten seine virtuellen Zähne fast nicht auseinander und pure Galle schien ihm die digitale Kehle hochzusteigen.

Nach dem ausloggen schwebte er allein in seinem Nanotank und ihm wurde bewusst, dass sein realer Körper vor Wut seine Hände allzu fest zu Fäusten geballt hatte. Er spürte keinen Schmerz, aber die Telemetriedaten bewiesen, dass die Nanomaschinen einige Quetschungen regenerieren mussten. Er wusste, dass er in Bezug auf Gene etwas unternehmen musste. Er wusste auch schon was, aber wie sollte er die Informationen weitergeben, ohne selber gelöscht zu werden?

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Autor: Tobias Mahs