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Kümmere Dich um ihn

Kümmere Dich um ihn.

Das waren Twinkles Worte gewesen, nachdem es Judith gefunden hatte. Zusammen mit ein paar geschilderten Fakten, was sich nach ihrem Verlassen auf der Brücke ereignet hatte.

Nun lag sie in ihrem Nanotank und war dabei, sich in Genes mögliche Verstecke einzuloggen.

Gene hasste es emotional instabil zu sein, das wusste sie mittlerweile. Er verkroch sich dann immer in irgendwelche Ecken und versuchte selber damit klar zu kommen.

Gleich der erste Versuch war von Erfolg gekrönt. Gene hatte sich in sein uraltes Mittelalterspiel zurückgezogen, dessen Instanz in seinem eigenen Kopf lief.

Etwas Gutes hatte das Ganze ja: Da das Spiel so uralt war, fiel es mit Sicherheit nicht unter die Überwachung der Netzwerksphäre. Zumindest solange sich dort keine Horden von Mitspielern einloggen würden. Deswegen konnten die Rebellen dies auch nicht zur geheimen Kommunikation für die breite Masse missbrauchen. Die Netzwerksphäre protokollierte trotz allem, wo man sich momentan aufhielt und auch mit wem. Nur die Wahrscheinlichkeit, dass die Kommunikation überwacht und aufgezeichnet wurde, ging quasi gegen Null. Zumindest war dies früher so gewesen.

Seit der Umstellung von Open Source auf proprietären Quellcode konnte sie das alles nicht mehr direkt überblicken, weil sie selber nur noch erahnen konnte, was im Hintergrund für Programme abliefen. Aber so ein uraltes Spiel, welches zudem rein in Genes Kopf lief, stellte schon eine gute Sicherheit dar. Die Kommunikation im Spiel lief über Sprache oder lokalen Chat. Beide Arten wurden vom Spiel selber nicht protokolliert. Das müsste dann schon von einem eigens dafür abgestellten Überwachungsprogramm erledigt werden.

Sie war hier schon einmal gewesen. Sie konnte sich an einen hässlichen männlichen Spielecharakter mit Specknacken erinnern. Die Spieleansicht erfolgte sowohl aus der Egoperspektive, als auch aus der Verfolgerperspektive. Allesamt stammte diese grafische Darstellung aus einer Zeit, in der Bildschirme zur Ausgabe verwendet worden waren. Gene, Twinkle und sie hatten sich damals ein wenig prügeln wollen, da hatte sie gedacht, dass ein starker männlicher Char von Vorteil wäre. Mit der uralten und sehr eingeschränkten Egoperspektive war sie damals nicht klar gekommen und war daher zur Verfolgerperspektive gewechselt, in der sie den Char so sah, als würde er ständig vor ihr herlaufen. Deswegen konnte sie sich an diesen hässlichen Specknacken erinnern, der ihr andauernd vor die Augen gehalten wurde. Sie schüttelte sich, bei dem Gedanken daran.

Endlich hatte das Spiel den Auswahlbildschirm für die Charaktere geladen und da sah sie ihren alten Char auch schon. Ingenerus Barbaricus, was hab ich mir nur dabei gedacht. Sie rollte mit ihren Äuglein. Und das Spiel lief über eine Mausbedienung. Sie schüttelte das Köpfchen.

Gene wollte es doch auf eine zeitgemäßere Variante umstellen. dachte sie.

Beherzt klickte sie auf den Knopf "einen neuen Char erstellen" und stellte das Geschlecht sofort auf weiblich. Viel konnte sie da aber nicht machen. Es gab drei Völker. Die Wikingerfrauen sahen ihr alle zu kriegerisch aus. Das zweite Volk hatte eine so bleiche Hautfarbe, dass sie ihre Nase kräuseln musste.

»Hm, dann also Mongolen.« seufzte sie. Sie klickte ein wenig herum, Nahm das hübscheste Gesicht der drei möglichen und stellte dann schnell den Rest fertig. Zum Schluss musste sie sich für einen Namen entscheiden. Sie tippte Sonam in das Feld Vorname und grinste. Doch der Char ließ sich nicht mit einem leeren Nachnamenfeld anlegen. Sie tippte daher ein Leerzeichen ein, doch das brachte nicht viel.

»Ernsthaft?« brummte sie genervt, als ein Info-Fenster ihr die möglichen Satzzeichen auflistet. Sie tippte einen einzelnen Bindestrich ein und klickte kopfschüttelnd auf den Erstell-Button.

Im Spiel angekommen wartete niemand auf sie. Kein Begrüßungskomitee weit und breit. Als neuer Char war ihre letzte Position dem Spiel unbekannt und sie war daher irgendwo random gespawnt. Irgendwo am Meer. Die Taste M öffnete ihr das Kartenfenster, auf dem sie sich mit der Maussteuerung mehr oder weniger gut orientieren konnte. Sie erblickte etwas, das einen Sumpf darstellte, und in dessen unmittelbarer Nähe die Umrisse von ein paar Gebäuden. Schulterzuckend rannte sie los in die Richtung. Die Aussicht, die sich ihr bot, hätte schon vor hundert Jahren als veraltet gegolten. Gelangweilt öffnete sie den global Chat und schrieb drauflos.

13:17:33 Sonam -: wo bistn du?

Nach einiger Zeit antwortete ein Spieler namens Nepomuk.

13:18:32 Nepomuk -: Da, wo ich schon beim letzten Mal gewesen bin. Wieso hast du einen neuen Char?

Sie rollte mit den Äuglein und als sie merkte, dass er das gar nicht mitbekommen konnte, schrieb sie es in Sternchen.

13:18:43 Sonam -: *rollt mit den äuglein*

13:18:51 Nepomuk -: *seufzt*

Nach einer ganzen Weile war sie endlich bei den Gebäuden angekommen und erinnerte sich wieder ein wenig. Zumindest an das, von dem sie meinte, dass Gene sich dort aufhalten würde. Sie vermutete ihn bei den Kräutergärten bzw. dem Feld, wo er immer Kräuter sammelte.

Gene spielte einen brummig aussehenden Wikinger mit zotteligen rötlichem Haar, Bart und … er hatte ein Kleid an. Sie staunte nicht schlecht.

Der lokale Chat blinkte. Anscheinend war sie nah genug heran. Die Oberfläche des Bodens war in quadratische Kacheln aufgeteilt. Wenn man wenige Kacheln voneinander entfernt war, konnte man sich auf einem sehr begrenzten Radius textlich unterhalten. Und nichts würde protokolliert werden. Sie grinste.

13:32:03 Nepomuk -: Warum Mongolin?

13:32:34 Sonam -: weil es das exotischste charaktermodell war, das das spiel zu bieten hat. oh, außerdem bekomme ich boni auf reiten, bogen schießen und tiere zähmen *grinst*

Er pflanzte gerade irgendetwas ein.

13:32:50 Sonam -: pflanzt du blümchen? und wieso hast du ein kleid an?

13:33:23 Nepomuk -: Kräuter. Und das ist eine Alchemistenkleidung. Und eigentlich pflanze ich nicht, ich dünge den Boden hoch, damit die gesammelten Kräuter von besserer Qualität sind.

13:33:44 Sonam -: aha, du verteilst kacke... und kräuter sind also keine blumen?

Sie kräuselte die Stirn und ärgerte sich wiedermals über das eingeschränkte visuelle Darstellungsmodell. Wirklich alles, mit dem man sich ausdrücken wollte, musste in den Chat geschrieben werden.

13:34:23 Sonam -: das inventar ist ja altmodisch. wieso spielst du so ein spiel überhaupt noch, das ist extrem veraltet. allein die grafik ist doch bestimmt 100 Jahre alt...

Sie schaute auf ihre Hände und konnte diese nicht normal hin und her drehen. Frustration machte sich in ihr breit. Sie fühlte sich so, als müsste sie eine schlecht gebaute Marionette steuern. Und das mit nur zwei oder drei Fäden.

13:34:35 Sonam -: wenn beim gehen keine laufanimation der beine angezeigt werden würde, müsste man auch das im chat emoten *grummelt*

13:34:45 Nepomuk -: Weil ich es immer gut fand und ich gerade dabei bin, es auf die Grafik der Netzwerksphäre upzugraden. Und… meine Mutter hat dieses Spiel immer gerne mit meiner Tante gespielt. Und später haben beide es mit mir gespielt. Und es hat was...

13:35:05 Sonam -: na komm schon, irgendetwas hast du doch. *zieht eine schnute*

13:35:15 Nepomuk -: Ich habe nichts.

13:35:26 Sonam -: twinkle sagt, dass du geflohen wärst. du hast irgendwas.

13:35:33 Nepomuk -: Nein, ich habe nichts.

13:35:41 Sonam -: sie haben dich mit deiner mutter genervt?

13:35:52 Nepomuk -: Sie haben mich nicht genervt. Sie waren nur neugierig.

13:36:04 Sonam -: und warum bist du dann geflohen?

Es dauerte etwas, bevor er antwortete.

13:36:55 Nepomuk -: Ich hatte einfach keine Lust mehr.

13:37:00 Sonam -: *schaut skeptisch drein*

Schweigen.

13:37:32 Nepomuk -: Ich habe nichts, verdammt!

Judith schwieg nun absichtlich.

13:38:42 Nepomuk -: Sie haben es mir damals verboten, darüber zu reden.

13:38:47 Sonam -: wer? die führung der kooperative?

13:38:52 Nepomuk -: *nickt*

13:39:21 Sonam -: also wusstest du von anfang an, dass deine mutter sich für dich geopfert hat?

13:39:29 Nepomuk -: nein, verdammt, wieso denkt das jeder?

Schweigen.

13:39:59 Nepomuk -: Kanntest du etwa auch meine Mutter?

13:40:05 Sonam -: *rollt mit den äuglein*

13:40:09 Nepomuk -: Judith, verdammt!

13:40:15 Sonam -: Sonam, in dieser virtualität heiße ich Sonam. und… ja.

Schweigen.

13:41:33 Sonam -: sie war eine von uns. und…

13:41:39 Sonam -: sie verschwand dann plötzlich...

13:41:44 Sonam -: und du kamst…

13:41:59 Nepomuk -: *grummelt*

Judith zögerte, längere Zeit, bevor sie die Frage abschickte.

13:44:02 Sonam -: wieso haben sie dich deiner meinung nach aufgenommen?

13:44:23 Nepomuk -: das darf ich niemandem sagen.

13:44:29 Sonam -: na dann…

Judith hatte die Nachricht gerade abgeschickt, als sie sich auch schon aus dem Spiel abmeldete. Sie öffnete schnell die Luke ihres Nanotanks schlüpfte hindurch, während das sie umgebende behäbige Nano-Liquid nervtötend langsam aus ihren Lungen und von ihrem Körper abzugleiten schien.

Die 30 Meter zu Genes Nanotank rannte sie innerhalb eines langen Atemzugs und pochte dort angekommen solange auf die Luke, bis er sie öffnete und sie eine sichere EsoKom zu ihm aufbauen konnte.

»...sag es mir halt jetzt unter vier Augen. Was haben sie dir gesagt? Wieso bist du angeblich hier?«

Gene schaute sie wütend an, wobei sich seine Wut aber nicht gegen Judith zu richten schien.

»Killer. Sie wollten mich als schlafenden Killer. Sonst hätten sie mich sterben lassen.«

Dann schloss er wieder die Luke und ließ sie mit einem perplexen Gesichtsausdruck auf dem Gang stehen.

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Autor: Tobias Mahs